SPÄTER
Eine Kurzgeschichte von Ulrich Papke.
Alle Rechte am Text liegen beim Autor Ulrich Papke.
Korrigiert und lektoriert von Carolin Kretzinger.

„Was hast du da auf deinem Kopf?“, fragte sie neugierig fasziniert.
„Das nennt man Zylinder“, nahm er seinen Chapeau Claque ab und faltete ihn wie von Zauberhand zu einem flachen Etwas.
„Das ist lustig!“, amüsierte sich Anne. „Aber hält dieses Ding deinen Kopf auch wirklich warm?“, zog sie sich die dicke rote Wollmütze mit der großen blauen Bommel, die ihre Mutter für sie gestrickt hatte, über ihre leicht abstehenden Ohren.
„Manchmal braucht es frischen Wind. Der kann ruhig auch kalt sein!“, gab das hagere Männlein zu bedenken.
Vom grauen Himmel schwebten derweil dicke weiße Schneeflocken sacht hinab auf die Erde. Auf die Menschen. Einige davon schmolzen auf Annes rosigen Wangen zu glitzernden Wassertropfen.
„Hhahaaptschie!“, kitzelten einige der Tropfen auch ihre stupsige Nase.
„Gesundheit und langes Leben!“, wünschte der in einen Smoking gekleidete Unbekannte.
„Ich nehme an, das ist gut gemeint. Also danke!“, erwiderte Anne mit ihren großen braunen Augen freundlich lächelnd.
„Nun, das mit dem langen Leben ist ein zweischneidiges Schwert. Doch mit Gesundheit kann man nicht genug überhäuft werden!“, rückte der Schmächtige seine weinrote Fliege zurecht.
„Wie heißt du eigentlich?“, setzte sich das zierliche Mädchen nun neben den Mann mit den feingliedrigen Händen auf die Parkbank. „Ich bin Anne.“
„Ich bin Paul. Ich freue mich, dich kennenlernen zu dürfen! Doch Namen sind nur Schall und Rauch“, nestelte Paul am Kragen seines blütenweißen Hemdes.
„Was meinst du damit?“, forderte Anne eine Erklärung.
„Nun, junge Dame, meiner bescheidenen Erfahrung nach spielt es keine Rolle, wie du heißt, woher du kommst, ob du dick oder dünn bist, reich oder arm. Was du tust, getan hast und tun wirst, ist meines Erachtens entscheidend.“
Auf Annes Stirn bildete sich eine tiefe Denkfalte.
„Du gefällst mir“, gestand sie. „Hast du schon eine Freundin?“, fragte sie kindlich übermütig.
„Ich finde auch gar großes Gefallen an dir!“, überprüfte Paul mit kritischem Blick die Sauberkeit seiner schwarzen, in Italien handgefertigten, echtledernen Schuhe. „Gibt es denn jemanden, den du besonders gern hast?“
„Ich bin in John aus meiner Klasse verknallt“, wurden Annes Ohren unter der Mütze ganz warm.
„Weiß er denn davon?“
„Ich hoffe, er merkt es.“
„Ach, junge Lady. Die Liebe wird dich möglicherweise enttäuschen. Vielleicht leider sogar mehr als ein Mal. Wichtig ist nur, dass du nie die Hoffnung verlierst. Auch wenn selbst diese durchaus weh tun kann.“
„Darf ich ein Selfie von uns machen?“, kramte Anne ihr Smartphone aus der Schulmappe hervor. „Aber du musst den Zylinder aufsetzen!“ Sie machte ein Foto und verabschiedete sich höflich.
Bis zum Sommer liefen sich Paul und Anne noch etliche Male im Park über den Weg. Stets setzten sie sich für einen Plausch gemeinsam auf die Bank.
Anne erzählte dann von ihren Erlebnissen in der Schule. Von doofen Klassenkameraden, die sie manchmal ärgerten. Oft von den neuesten Dummheiten, die sich John mal wieder geleistet hatte.
Paul gab lustige Anekdoten aus seiner Kindheit zum Besten oder schwärmte von seinen liebevollen Eltern. Wenn er es als angemessen empfand, gab er Ratschläge und teilte einige seiner Erfahrungen.
Seit er Anne zum ersten Mal getroffen hatte, hatte er bei seinen Spaziergängen stets eine kleine Süßigkeit dabei. Für alle Fälle. Mit einem Waldmeisterbonbon, einer mit Schokolade ummantelten Erdnuss oder einem kleinen Lolli konnte er ihr immer eine Freude bereiten.
Wenn es gar allzu sehr schneite oder regnete, spannte Paul seinen großen schwarzen Schirm und hielt ihn schützend über sie.
Immer wenn Anne schließlich ihren Weg zur Bushaltestelle fortsetzte, verabschiedete sie sich höflich mit bezauberndem Lächeln. Nie jedoch, ohne vorher ein Selfie zu machen.
Ein paar Wochen hoffte Paul nun schon vergebens, Anne, die ihm sehr ans Herz gewachsen war, wiederzusehen.
Ohne sich auflehnende Wolken am Himmel demonstrierte die Sonne erbarmungslos ihre Macht. Es war so warm, dass Paul sogar seinen Zylinder abnahm und ihn neben sich auf die Parkbank legte.
‚Ich glaube, es ist Ferienzeit. Vielleicht sind ihre Eltern ja auch umgezogen. Oder sie hat die Schule gewechselt und nimmt einen anderen Heimweg‘, grübelte er oft traurig.
Jahre später:
Wie gewohnt schaute Paul in den Briefkasten, als er nach seinem täglichen Spaziergang heimkehrte. Mehr Rechnungen, als ihm lieb waren, steckten darin. Ein rosafarbener Briefumschlag erregte jedoch seine Aufmerksamkeit. Anne stand auf der Rückseite.
In der Stube auf dem Sofa, Smoking und Zylinder waren sorgfältig im Kleiderschrank verstaut, öffnete er mit zitternden Händen ganz vorsichtig das Kuvert und las die erste Seite der Faltkarte:
Lieber Paul! Danke, dass ich Dich kennenlernen durfte. Hiermit lade ich Dich ganz herzlich zu meiner Hochzeit mit John ein. Liebe Grüße Anne.
Freudentränen kullerten über Pauls Wangen, als er die beigefügten Bilder betrachtete. Über das in eine Serviette gewickelte Waldmeisterbonbon musste er herzlich lachen.